Fokus | 31. März 2016
Technik zum Anbeissen
Integrierte Lösungen für das leibliche Wohl
Lebensmittel müssen gut schmecken und dazu preiswert, sicher, vielfältig und auf der ganzen Welt verfügbar sein. Diese Herausforderung meistert die Nahrungs- und Genussmittelindustrie, an deren Leistungsfähigkeit spezifische Technologien von ABB einen wesentlichen Anteil haben.
Die Weltbevölkerung ist in den vergangenen 25 Jahren um ungefähr zwei Mrd. Menschengewachsen. Bis Mitte 2016 werden 7,4 Mrd. Menschen auf der Erde leben. Trotz dieses gewaltigen Bevölkerungswachstums hat sich die Ernährungssituation in derselben Zeit in vielen Regionen der Welt verbessert. Litten im Jahr 1990 laut Vereinten Nationen (UN) noch über eine Mrd. Menschen Hunger, so sind es laut dem aktuellen UN-Bericht zur Ernährungssicherheit derzeit weltweit 795 Mio. Menschen. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen hat bis zum Jahr 2030 das Ziel «Zero Hunger – eine Welt ohne Hunger» ausgegeben. In der industriellen Lebensmittelproduktion liegt auch einer der Schlüssel, dieses Ziel zu erreichen und die weiter rasch wachsende Weltbevölkerung ausreichend zu ernähren.
Für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist die Verfügbarkeit von qualitativ hochwertigen und sicheren Lebensmitteln eine der grossen Herausforderungen. Ziel ist die optimale Nutzung der landwirtschaftlich erzeugten Rohstoffe und deren Verarbeitung zu Lebensmitteln. Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie muss dabei den Bedürfnissen und Ansprüchen der Konsumenten an Lebensmittel in qualitativer und quantitativer Hinsicht entsprechen. Dies gelingt durch den Einsatz bester Rohstoffe und einer modernen Produktionstechnologie. «Die technische Herausforderung besteht darin, eine Produktion von sicheren und sensorisch ansprechenden Lebensmitteln zu erreichen, die sich durch lange Haltbarkeit bei gleichzeitig schonender Behandlung der wertgebenden Inhaltsstoffe auszeichnen», sagt Prof. Jörg Hinrichs von der Universität Hohenheim (siehe Interview).
Grosses Marktpotenzial
Über 170 000 verschiedene Produkte umfasst das Lebensmittelangebot in Deutschland und der Schweiz. Hinter der Vielfalt an hochwertigen Lebensmitteln stehen Produktionsmethoden, die es in Sachen Raffinesse jederzeit mit einer Gourmet-Küche aufnehmen können. Die Lebensmittelproduktion sorgt durch den koordinierten Einsatz leistungsfähiger Automatisierungstechniken für gleichbleibend hohe und sichere Qualität, Innovationen sowie attraktive Preise und ständige Verfügbarkeit.
Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie setzt in Deutschland ungefähr 170 Mrd. Euro pro Jahr um. «Weltweit wächst der Sektor um 4 bis 5 % im Jahr und hat grosses Potenzial. Nach der Automobilindustrie handelt es sich um den zweitgrössten Markt für die Industrieautomation», sagt Tatjana Milenovic, Food & Beverage Marketing & Portfolio Management bei ABB in Turgi. «In Zahlen: Bei der Automatisierung geht es weltweit um ein Investitionsvolumen von jährlich 19 Mrd. US-Dollar.»
Trotz Bevölkerungswachstums hat sich die Ernährungssituation in vielen Regionen der Welt verbessert.
Essen mit Genuss
Die Lebensmittelproduktion hat sich in den vergangenen 60 Jahren stark verändert – ebenso wie die Ernährungsgewohnheiten. Lebensmittel dienen uns zwar immer noch in erster Linie als Energiequelle, aber auch als Genussmittel. Sie müssen gut schmecken und dazu preiswert, sicher, qualitativ hochwertig, vielfältig und jederzeit verfügbar sein. Mit der wachsenden Bevölkerung und fortschreitender Verstädterung war ein Industrialisierungsprozess von der Handarbeit zur Rationalisierung notwendig – wie in nahezu allen Produktionsbereichen auch bei der Herstellung von Lebensmitteln.
Die Verarbeitung macht Lebensmittel haltbar, nahrhafter oder überhaupt erst geniessbar. Sie umfasst also alle Massnahmen, die einen natürlichen Rohstoff zu einem sicheren, essbaren und schmackhaften Produkt machen. Viele Verfahren, die zu Hause oder in der handwerklichen Verarbeitung genutzt werden, finden sich in standardisierter, beschleunigter Form ebenso in der Industrie wieder.
Sicherheit, Hygiene, Verfolgbarkeit
Grundsätzlich unterscheiden sich die Technologien in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie in primäre (primary) und sekundäre (secondary) Anwendungen. Bei primären Techniklösungen besteht ein direkter Kontakt zum Lebensmittel, das beispielsweise gemessen, gerührt oder geschnitten wird. Bei sekundären Anwendungen findet keine direkte Berührung des Lebensmittels statt, das abgefüllt, verpackt, aufgepickt oder gestapelt wird. «Für beide Segmente gilt die Anforderung, dass uneingeschränkte Sicherheit, Hygiene und Rückverfolgbarkeit jederzeit gewährleistet sein müssen», sagt Tatjana Milenovic. «Zudem gilt es, kontinuierliche, verlässliche Abläufe auch unter extremen Temperaturen und in chemisch aggressiver Umgebung zu steuern.»
Kühlschrank an Supermarkt
Einen weiteren technischen Aspekt erhält die Nahrungs- und Genussmittelindustrie durch die immer stärkere digitale Verknüpfung zum Internet der Dinge, Dienste und Menschen, das auch mit dem Begriff Industrie 4.0 verbunden ist. Es rücken Anwendungen ins Blickfeld, innerhalb derer Komponenten im Internet der Dinge autark miteinander kommunizieren und zusätzlichen Komfort schaffen. Ein bekanntes Beispiel ist der Kühlschrank, der jederzeit seinen Bestand kennt und seinem Besitzer etwaige fehlende Dinge auf dem Smartphone signalisiert. Alter nativ ordert das intelligente Frostgerät sogar selbstständig im Supermarkt der Wahl, von wo prompt die Lieferung frei Haus – oder besser: frei Kühlschrank – erfolgt. Ähnlich funktionieren Kochabonnements. Sie wenden sich an Verbraucher, die zwar gerne zu Hause kochen, aber keine Idee oder keine Zeit für den Einkauf haben. Sie buchen ein Kochabonnement und bekommen exakt bemessene Zutaten samt Rezept nach Hause geliefert.
Die Verarbeitung macht Lebensmittel haltbar, nahrhafter oder überhaupt erst geniessbar.
Integrierte Lösung von ABB
Die Nutzung von ABB-Technologien in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie ist alltägliche Realität. Wer in einem Supermarkt seinen Einkaufswagen zur Kasse schiebt, kann fast immer sicher sein, Lebensmittel an Bord zu haben, die mithilfe von ABB-Technik hergestellt wurden. Ob Pizzen von Dr. Oetker, Süsses von Lindt & Sprüngli oder Coppenrath & Wiese, gehaltvolle Getränke von Absolut und der Badischen Staatsbrauerei Rothaus oder hochwertige Molkereiprodukte von FrieslandCampina, irgendwo im Produktionsprozess spielen Roboter, Sicherheitssteuerungen, Antriebe, Messinstrumente oder ein Leitsystem von ABB ein entscheidende Rolle – vielfältige Produkte und Lösungen, die speziell auf die besonderen Anforderungen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie abgestimmt sind.
«Unsere Kunden suchen eine integrierte Lösung für ihre komplexen Aufgaben», sagt Gernut van Laak, Group Automation Solutions Leader Food & Beverage bei ABB. «Dieses Lösungsfeature wollen wir massgeschneidert liefern. Dazu arbeiten mehrere ABB-Divisionen mit ihren jeweiligen Produkten so zusammen, dass die für den Kunden beste Applikationslösung als individueller Mix von Produkten entsteht.» Diese Herangehensweise steht auch bei der aktuellen, konzernweiten Next-Level-Strategie von ABB und insbesondere bei Food & Beverage im Fokus. «Wir wollen noch häufiger direkt mit den Endkunden sprechen, um deren Bedürfnisse aus erster Hand kennenzulernen», sagt Gernut van Laak. «Wir wollen wissen, wo der Schuh drückt, und empfehlen dann Lösungen, die mehrere Probleme zugleich adressieren.»
Rügenwalder Mühle spart 50 % Strom
Rügenwalder Teewurst, Pommersche Gutsleberwurst, Schinken Spicker – Spezialitäten wie diese haben die Rügenwalder Mühle zu einem der bekanntesten und beliebtesten Wursthersteller Europas gemacht. Die Teewurst wird traditionell mit Buchenholz geräuchert. Der Buchenrauch wird in Raucherzeugern produziert und mit Lüftern in die Kammern geblasen. Zweistufige, polumschaltbare Asynchronmotoren hatten die Lüfter seit 1992 angetrieben. Um spürbar Energie einzusparen, wurden diese durch moderne IE4-Pakete aus Synchronreluktanzmotor und Frequenzumrichter ACS880 von ABB ersetzt. Eine Vergleichsmessung vor und nach der Umrüstung ergab eine Energieeinsparung von knapp 50 %. Die Investition in die neue Antriebstechnik amortisierte sich für die Rügenwalder Mühle innerhalb von 1,3 Jahren.
Recycling bei Migros
Zwei ABB-Roboter bei der Genossenschaft Migros in Zürich werden erst dann aktiv, wenn die Getränkeverpackungen ausgetrunken sind: Seit 2014 sind sie das zentrale Element beim Handling des gesamten PET- und Karton-Recyclings der Migros-Einzelhandelsmärkte im Grossraum Zürich. In der Recyclinganlage kommen die Verpackungsabfälle per Lkw in drei verschiedenen Behälterpaletten mit Faltgittern an. Ein ABB-Roboter greift die vollen Behälter – pro Stunde bis zu 150 Stück mit bis zu 160 kg Gewicht – und kippt die Ladung entweder in den PET- oder den Kartonschacht. Um welche der drei Sorten Behältnisse es sich handelt und ob sie in der einstöckigen oder zweistöckigen Version kommen, spielt dabei keine Rolle.