Fokus | 16. Juli 2018

Nächster Halt – neue Energie für den Nahverkehr

Moderne Konzepte für Bus und Bahn

Intelligent und leistungsstark – so muss der Nahverkehr der Zukunft sein, um den Verkehrskollaps der Ballungszentren zu verhindern. Er will umweltfreundlich sein und in nie gekannter Weise komfortabel. Hinzu kommen digitale Lösungen, die sowohl die Steuerung der Verkehrssysteme als auch den Service für die Passagiere auf ein neues Niveau heben.

Der Nahverkehr boomt. Besonders augenfällig wird dies, wenn Städte Tramlinien wiederbeleben, die sie längst stillgelegt haben. So hat Lugano 1897 ein Tram in Betrieb genommen – ausgestattet von der damaligen BBC – und in den 1950er-Jahren eingemottet. Jetzt gibt es in der Tessiner Stadt erneut Baupläne. Auch in Karlsruhe und Mainz entstehen derzeit neue Tram- und U-Bahn-Strecken. Begünstigt vom stetigen Bevölkerungsanstieg wächst der Bedarf an modernen Nahverkehrs-Lösungen. Die statistischen Zahlen belegen das stabile Wachstum. So betrug etwa die Verkehrsleistung von Trams in der Schweiz 2016 rund 1,18 Mrd. Personenkilometer, 2006 lag dieser Wert noch bei 786 Mio. Allein im Gebiet des Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV) beförderte der öffentliche Verkehr 2016 über 638 Mio. Fahrgäste, beinahe 8 % mehr als fünf Jahre zuvor.

Mobil und emissionsarm

Zusätzlicher Motor für das Wachstum im Orts- und Nahverkehr sind Endlosstaus, Luftverschmutzung und das Damoklesschwert von Innenstadt-Fahrverboten für den Individualverkehr. Immer mehr Fahrgäste schätzen den staufreien Komfort von Trams und Bussen.

«Die digital verknüpften Leistungen eröffnen den Verkehrsunternehmen ganz neue Potenziale.»

Grenzen zwischen Verkehrsarten fliessen

Harald Hepp, Leiter Traction bei ABB Schweiz: «Wir erleben einen Ausbau aller Strukturen des öffentlichen Verkehrs und vor allem sehen wir, dass die Grenzen zwischen den Verkehrsarten immer mehr fliessen. Ein Doppelgelenkbus ist der Dimension nach fast ein Tram und die Energieversorgungssysteme entwickeln sich in immer paralleleren Bahnen. Beispielsweise werden immer mehr Busse oder Trams mit Energiespeichersystemen ausgerüstet.» Neue Technologien entwickeln sich immer schneller. Dabei müssen die Betreiber und Lieferanten beachten, dass Transportinfrastrukturen sehr langlebig sind. Auch deshalb ist die Ausstattung des Nahverkehrs immer ein politisch stark beachtetes Thema mit komplexen Entscheidungsprozessen. «Für die Industrie bedeutet das, dass wir modulare und flexible Technologielösungen anbieten müssen, die skalierbar und nachrüstbar sind», sagt Hepp. «Wir bei ABB interpretieren unsere Rolle deshalb als ‹Enabler›, der Fahrzeugherstellern und Betreibern die beste Lösung ermöglicht.»

Kompakt und leicht

Die Produkte und Leistungen von ABB in der Antriebstechnik von Schienenfahrzeugen umfassen die gesamte Leistungselektronik und Fahrzeugleittechnik. Harald Hepp umreisst das Spektrum: «Wir statten alle Fahrzeugarten und Leistungsstufen aus: vom Tram über die S-Bahn, ein- und zweistöckige Pendlerzüge und weiter bis zu Hochgeschwindigkeitszügen wie den SMILE von Stadler – auch bekannt als Giruno – als Spitze der Leistungspyramide.»

Bei der Auslegung von Tramantrieben sind zwei grundsätzliche Herausforderungen zu bewältigen: Die Fahrzeuge haben häufig sehr begrenzte zulässige Achslasten, die meist von Brücken vorgegeben sind. Ausserdem sollen die Trams aus Komfortgründen möglichst durchgängig niederflurig sein. Das begrenzt sowohl den Platz zwischen Fahrgastraum und Schienen als auch den Raum auf dem Dach zwischen den Stromabnehmern. Die doppelte Herausforderung löst ABB mit der Kompaktbauweise von Systemen, die zugleich Antrieb und Bordnetzversorgung enthalten – einmalig bei Antrieben für Trams. «Unser Spitzenmodell ist der Kompaktstromrichter BORDLINE CC400 DC, der 600 kg weniger als frühere Lösungen wiegt», erläutert Hepp.

Fuhren Trams bis ungefähr 1990 mit Gleichstrommotoren, sind heute effizientere Drehstrommotoren Stand der Technik. Für den Antrieb der Drehstrommotoren wandeln die Stromrichter die Gleichspannung von 750 V mithilfe von Halbleitern in Drei-Phasen-Wechselstrom um. Durch den Technologiewechsel hin zu Drehstrommotoren, immer teurere alte Ersatzteile und wachsende Anforderungen wie stärkere Bordnetzversorgung müssen Trams modernisiert werden. In einem solchen Retrofit-Projekt steuert ABB bis Ende 2019 die neue Antriebstechnik für 33 Bahnen der Kölner Verkehrsbetriebe bei. Ähnliches geschieht in Berlin: Dort rüstet die S-Bahn 70 Züge aus den 1990erJahren mit 140 neuen Antriebscontainern mit wassergekühlten Kompaktstromrichtern aus, die an die bestehende Fahrzeugleittechnik angebunden werden.

Während die Passagiere an der Haltestelle aus- und einsteigen, lädt das Flash-System die Busbatterie.

Die Zukunft ist digital

Den wichtigsten Trend für Nahverkehrsmittel sieht Harald Hepp in der fortschreitenden Digitalisierung: «Ob Fernübertragung, Auswertung von Diagnosedaten, vorausschauende Wartung oder vor allem die Auswertung von Betriebsdaten, kombiniert mit geografischen Informationen – die digital verknüpften Leistungen eröffnen den Verkehrsunternehmen ganz neue Potenziale.» Wenn beispielsweise ein Sensor immer an der gleichen Stelle im Schienennetz ein Antriebsproblem meldet, kann ein Problem wie eine defekte Weiche vorliegen, das mit anderen Methoden viel schwerer zu identifizieren wäre. Ähnlich kann eine immer an der gleichen Stelle unzureichende Einspeisung auf bisher unentdeckte Leistungsprobleme beim zugehörigen Unterwerk hinweisen.

«Unsere technologisch offene Plattform erlaubt es, mit jedem Bushersteller zu kooperieren.»

Offene Plattform für E-Busse

Die Elektrifizierung von Bussen hat grosses Potenzial – sie reduziert schädliche Emissionen und macht den öffentlichen Nahverkehr effizient. Thierry Jenelten, Global Sales Manager E-Bus Drivetrain Solutions bei ABB Schweiz, erläutert die Rolle von ABB in diesem Feld: «Unsere technologisch offene Plattform erlaubt es, mit jedem Bushersteller zu kooperieren. ABB ist in der Lage, alle Elemente vom Motor über Traktionsumrichter und Batterien bis hin zur Schnittstelle und Ladeinfrastruktur sowie zur Netzanbindung beizusteuern.»

Grundsätzlich unterscheidet ABB drei Arten, E-Busse zu laden. Beim Depot-Laden muss die Batterie für die gesamte Tagesfahrleistung ausgelegt sein und wird erst abends im Depot geladen. Dagegen beziehen die E-Busse beim OppCharge – von Opportunity Charging – ihre Energie an ausgewählten Haltestellen mit fahrplanmässig längeren Stopps von drei bis sechs Minuten, wo sich Pantographen von der Ladestation zum Busdach herabsenken. Das Laden während des Tages erlaubt es, die Batterie so zu dimensionieren, dass ein Ausgleich zwischen betrieblichen Ansprüchen und Passagierkapazität des Fahrzeugs erreicht wird. OppCharge und Depot-Laden sind die Techniken mit dem grössten Marktvolumen.

Laden in Sekunden

Die dritte Technologie von ABB ist das System TOSA mit der Flash-Ladetechnologie. Flash-Laden ist insbesondere für stark nachgefragte und damit hochfrequentierte Strecken eine sehr gute Option. Die Busse werden an Haltestellen entlang der Strecke mit 600 kW in jeweils 15 bis 20 Sekunden geladen. Sie benötigen so nur eine kleine Batterie von 70 bis 80 kWh, ebenfalls mit dem Vorteil, dass die Passagierkapazität möglichst gross gehalten wird. Die Linienfahrzeuge docken an der Haltestelle innerhalb einer Sekunde an die FlashLadei nfrastruktur an.

Möglich macht das ein lasergesteuertes Energy Transfer System, das die Infrastruktur mittels RFID-Tag als Zielmarke identifiziert und bereits beim Einfahren des Fahrzeugs in die Haltezone mit dem Verbindungsprozess beginnt. Die Kontaktschiene an der Flash-Station erlaubt bis zu 3 m Abweichung in Längs- und das Transfer System 0,5 m in Querrichtung. Das System toleriert zudem Kneeling – das Absenken der Busse auf der Einstiegsseite. Eingesetzt wird das System seit 2017 in Genf, wo zwölf Busse auf der Strecke zwischen Flughafen, Spital und einigen Wohnorten fahren. Die vollelektrischen Gelenkbusse können bis zu 133 Personen gleichzeitig transportieren und nutzen an 13 von 50 Haltestellen die Flash-Ladetechnologie. Auch in Nantes werden von 2019 an vollelektrische Doppelgelenkbusse per Flash-Technologie geladen.

Einen nächsten Evolutionsschritt erlebt auch der bewährte Trolleybus. Moderne Fahrzeuge dieses Typs werden mit einer Batterie ausgestattet und erlangen so mehr Flexibilität im täglichen Betrieb – sei es, um Baustellen oder Staus in Ausnahmefällen zu umfahren oder um bestehende Linien oberleitungsfrei zu verlängern. Spannend für Betreiber kann es auch sein, Oberleitungen an komplizierten Kreuzungen oder auf unterhaltsaufwendigen Abschnitten zu demontieren und dort im Batteriebetrieb zu fahren. Zusätzlich gewinnt das Fahrzeug an Energieeffizienz, da es die Bremsenergie in der Batterie speichern kann. ABB liefert für Trolleybusse dieser Art die Antriebstechnik, bestehend aus Stromrichter und Permanentmagnet-Motoren. Solche Trolleybusse kommen bereits heute oder in naher Zukunft in Zürich, Bern und Biel zum Einsatz.
der

Seit 2009 ist in Dubai die Metro in Betrieb, deren Netz inzwischen 75 km umfasst.

GIS für Metro Dubai

Erstaunlicherweise kommt auch auf der ölreichen arabischen Halbinsel der Ausbau des elektrischen öffentlichen Nahverkehrs voran. Seit 2009 ist in Dubai eine Metro in Betrieb, deren Netz inzwischen 75 km umfasst. Anlässlich der Expo 2020 in der grössten Stadt der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) wird eine Linie von der Innenstadt zum Ausstellungsgelände hin um 15 km verlängert. Den Auftrag erhielt ein internationales Konsortium. ABB beliefert das prestigeträchtige Grossprojekt über das Energieministerium der VAE mit drei gasisolierten Schaltanlagen (GIS) mit je sechs Feldern. Die Anlagen sind wichtiger Bestandteil von drei Umspannwerken, die die 132-kV-Hochspannung aus dem Verteilnetz in die von der Metro benötigte Mittelspannung von 33 kV umwandeln. Noch im Jahr 2018 sollen die Schaltanlagen betriebsbereit sein, bevor 2019 die Metro mit Erprobungsfahrten und ab Anfang 2020 mit dem fahrplanmässigen Betrieb beginnt.

«Für die Metro Katar liefern wir fünf Schaltanlagen inklusive Aufbau und Inbetriebnahme.»

Zwei Metro-Linien fahren derzeit durch die Wüstenstadt. Zur Expo 2020 wird eine der Linien verlängert.

Metro für Fussball-WM 2022

Die Metro Dubai war zugleich eine der Blaupausen für die jetzt mit Blick auf die Fussballweltmeisterschaft meisterschaft 2022 im Bau befindliche Metro Doha in Katar. Auch dort ist ABB als Lieferant von Hochspannungsschaltanlagen (GIS) involviert. Projektleiter Robert Schönherr von ABB erläutert: «Für die Metro Katar liefern wir fünf Schaltanlagen inklusive Aufbau und Inbetriebnahme innerhalb des Grossauftrags Qatar Phase 12, der insgesamt 23 Anlagen umfasst.» Die fünf Unterverteilstationen versorgen bestimmte Streckenabschnitte der neuen Metro mit Strom, drei sind bereits am Netz. «Wir haben die 132-kV-Anlagen in drei typischen Grössen von 12, 14 und 18 Feldern nach der EndkundenSpezifikation von Kahramaa, der Qatar General Electricity & Water Corporation, zu liefern. Die Spezifikation gibt sämtliche Details wie Design, Layout, Steuerung, Verriegelung und Schnittstellen der Schaltanlage vor», sagt Schönherr. Eine weitere Besonderheit ist dem Klima geschuldet: Um das volle Potenzial der Leistung ausnutzen zu können, befinden sich die Anlagen in klimatisierten Hallen.